HISTORIE Ausstellung im UGN über das Leben von Tanya Josefowitz und Anne Frank – Beide wären in diesem Jahr 90 Jahre alt
Betroffenheit herrscht bei Besuchern und Veranstaltern, als sie in die Geschichte eintauchen und Passagen aus Tagebüchern vorlesen.

NORDEN/ELA – Die sympathische ältere Dame mit der großen Brille sagt zum Ende des Films nachdenklich den Satz: „Er war ein Superman, ganz fantastisch.“ Die Jüdin Tanya Josefowitz verdankt ihr Leben diesem „Superman“. Er war ein Gestapo-Mann. Er half Tanya, ihrem Bruder und der Mutter aus Nazi-Deutschland auszureisen. Heute lebt die 90-jährige Tanya Josefowitz in der Schweiz. Die Erinnerungen der gebürtigen Wormser Jüdin standen im Mittelpunkt einer Veranstaltung im Kunstgebäude des Ulrichsgymnasiums Norden (UGN). Es wurde aus ihrem Buch „I remember – Ich denke an...“ vorgelesen, das in deutscher und englischer Sprache erschienen ist.


Dr. Jörg W. Rademacher, Lehrer am UGN, ist für die Übersetzung verantwortlich und hat auch ein Nachwort geschrieben.
Doch die Veranstaltung am Mittwochnachmittag im Kunstgebäude des Ulrichsgymnasiums war mehr als eine Lesung über die Erinnerungen Tanya Josefowitzs. Gleichzeitig ging es um das jüdische Mädchen Anne Frank, das ebenfalls am 17. Mai geboren worden war wie Tanya. Auch sie hätte in diesem Jahr damit ihren 90. Geburtstag feiern können. Doch Nazis ermordeten Anne Frank. So stand die Veranstaltung im UGN unter dem Titel „Tanya Josefowitz and Anne Frank at 90. A Life Of Resistance“. Die Ausstellung ist in Englisch formuliert. Unter der Leitung von Kunstlehrer Johannes Thiele hatten die Klassen 9b und 10b eine Ausstellung vorbereitet. Der eine Teil beschäftigt sich mit Anne Frank. In Teil zwei werden Bilder gezeigt, bei denen die Schüler Fotos der jungen und älteren Tanya sowie ihres Bruders Vladimir interpretieren. Außerdem geht es bei einigen Werken weniger ums Malen, als darum, Fragen zu stellen. Die Jugendlichen hatten sich fiktive Fragen ausgedacht. Sie wollen zum Beispiel wissen, warum der NS-Mann geholfen hatte.

Es war nicht diese Vielschichtigkeit von Lesung und Ausstellung, die den Direktor des Gymnasiums, Wolfgang Grätz, hilflos werden ließ bei der Begrüßung, wie er sagte. Es war das Thema. Zwar freue er sich, dass es so ein großes Interesse an der Veranstaltung und damit dem Thema gebe – doch der Anlass lasse ihn erschaudern. „Der Dichter Heinrich von Kleist sagte einmal, man kann nicht alles mithilfe der Sprache ausdrücken.“ Dieser Satz passe auf das furchtbare Geschehen im Dritten Reich. „Es ist so schwierig, das gesamte Ausmaß auszudrücken.“ Man müsse die Erinnerung aber daran hochhalten, immer wieder daran erinnern, sagte Grätz. Gerade vor dem Hintergrund, dass heute der Fremdenhass zugenommen habe, es wieder viele Mitmenschen gebe, die mit einfachen Parolen versuchten, Stimmung gegenFremde und Andersdenkende zu machen. „Dagegen müssen wir uns angemessen wehren.“
Man hätte die Stecknadel fallen hören, als Elke Scheiner, die Tanya Josefowitz kennt, aus dem Buch „I Remember – Ich denke an...“ vorlas. Der Kontakt zwischen Elke Scheiner und dem Norder Lehrer Rademacher war zufällig entstanden, als Elke Scheiner jemanden suchte, der für sie ein Gedicht für eine Gedenkfeier in Frankreich übersetzt. Das Buch macht unglaublich dicht und anschaulich deutlich, welche Ängste Tanyas Familie, die Familie Kagan, bei der Flucht aus Deutschland litten. Auch wenn Tanya damals noch ein Kind vonacht Jahren war, kann sie sich an alles erinnern. Nur ein Beispiel: Im März 1938, als sie noch in Worms lebten, hörten sie und ihr Bruder Vladimir die Gestapo im Gleichschritt auf dem Kopfsteinpflaster unter dem Kinderzimmerfenster marschieren: „Draußen hörten wir das Klick und Klack der Stiefel“, las Elke Schreiner vor. Als die Gestapo einen Brief zustellt, der die russischen Juden auffordert, Deutschland binnen zehn Tagen zu verlassen, beginnt kurz darauf die Flucht. Dass diese glücklich endet, hat die Familie einem bis heute unbekannten Gestapo-Mann, „unserem Schutzengel“, wie Tanya Josefowitz zu Papier bringt, zu verdanken. Dieses Buch beschreibt absolut lesenswert, weil äußerst anschaulich, mit welchen Ängsten und Problemen die Familie zu kämpfen hatte, bis sie endlich in den USA ankam. „Vladimir und ich, wir waren beide überwältigt von all den neuen Erfahrungen.“
Im Interview, das im Atelier von Tanya Josewitz in der Schweiz aufgenommen worden ist, macht die Autorin deutlich, dass ihre Erinnerungen an Deutschland belastet sind. Trotz vieler Freunde, die die Familie hatte, sei sie voneinigenDeutschen damals bespuckt worden. Auch als sie später mit ihrem Mann öfter nach Deutschland reist, sei es schwierig für sie gewesen. Während sie sich in den USA frei fühlte, habe sie sich bei älteren Deutschen oft gefragt, ob diese Judenhasser gewesen seien. Auch wenn sie in den USA Deutsche traf, habe sie sich diese Frage gestellt.
Das Buch habe sie geschrieben, weil es „tief in meinem Herzen war“. Es solle eine Hommage an ihre Mutter sein und an den Mann, „der uns gerettet hat“. Das Buch zu schreiben, sei eine Befreiung gewesen. „Damit die Welt weiß, was passiert ist.“

AUSSTELLUNG Die Ausstellung mit den Bildern und Werken der Norder Schüler ist bis einschließlich Freitag, 24. Mai, im Kunstgebäude des Ulrichsgymnasiums Norden zu sehen. Die Ausstellung hat vormittags geöffnet. Interessierte Besucher müssen sich im Sekretariat der Schule anmelden.
Während der Veranstaltung am Mittwoch stellte Petra Drüke, Lehrerin am Ulrichsgymnasium, auch die Gruppe Relais de la Mémoire vor. Diese Gruppe, die europaweit von Schülern gebildet wird, beschäftigt sich mit der Weitergabe der Erinnerung von Verfolgten der nationalsozialistischen Herrschaft. Auch stellte Petra Drüke die Arbeitsgruppe Synagogenweg vor. Der Erlös aus dem Verkauf der Bücher Tanya Josefowitz geht vollständig an die Arbeitsgruppe.
In der Zeit vom 22. April bis zum 18. Mai 2020 wird in Norden zum zweiten Mal eine Anne- Frank-Ausstellung gezeigt. Paula Morbach, frühere Schülerin des UGN, und Maike Becker wiesen darauf hin, dass sie inzwsischen nicht allein Peer Guides seien, die Schüler die Ausstellung näherbringen können. Sie seien inzwischen sogar schon zu Anne-Frank-Botschaftern ausgebildet worden.

Entnommen aus dem Ostfriesischen Kurier vom 11.05.2019, Seite 8.