„Umgebracht zu werden ist anders als zu sterben“
Erna de Vries erzählt Norder Schülern von ihrer Vergangenheit – dem Horror des Zweiten Weltkriegs: Die 91-jährige Jüdin wurde gezwungen, in Auschwitz-Birkenau zu arbeiten. Sie sollte in einer Gaskammer sterben und entkam dem Tod nur knapp. – von Annika Thieme
NORDEN – Stille, Beklommenheit und dann Applaus, der anerkennend und mitfühlend gemeint ist. In der Aula des Norder Ulrichsgymnasiums (UGN) hat die 91-jährige Erna de Vries die Schüler der neunten Klasse mit ihrer Geschichte am Freitag zu Tränen gerührt. Sie hatte erzählt, wie sie als Jüdin im Zweiten Weltkrieg beschimpft und vertrieben wurde. Wie sie im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau zu unmenschlicher Arbeit gezwungen wurde und wie sie der Gaskammer nur knapp entkam.
„Als ich meine Mutter auf der Lagerstraße in Auschwitz zum letzten Mal sah, musste ich ihr versprechen, dass ich überlebe und erzähle, was man mit uns gemacht hat“, erklärt de Vries. Sie spricht mit lauter fester Stimme, ohne Mikrofon und erreicht jeden im Saal – die Neuntklässler sowie ihre Austauschschüler aus England und Frankreich.
Erna de Vries, geborene Korn, ist die Tochter von Jacob Korn, eines evangelischen Christen, und Jeanette Korn, geborene Löwenstein, einer Jüdin. Sie wuchs in Kaiserslautern auf und wurde jüdisch erzogen. Ihr Vater führte eine erfolgreiche Spedition und hatte einen guten Ruf als Geschäftsmann. Als de Vries’ Vater 1931 starb, übernahm Jeanette Korn das Geschäft und ernährte die Familie fortan allein. „Das war der erste harte Schlag für uns“, erzählt de Vries.
Beschimpft und bespuckt
Sie ging zur Schule, wollte Medizin studieren, ein normales Leben führen. Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, ging es mit dem Familiengeschäft den Bach runter. „Es kamen immer weniger Kunden. Niemand wollte bei Juden einkaufen“, erklärt de Vries. 1935 bekam ihre Mutter keine neue Lizenz für das Geschäft und musste die Spedition aufgeben. „Nach und nach fing unser Leben an, sich zu verändern. “Außerhalb der Schule wurde de Vries zunehmend beschimpft und bespuckt.
„1938 wurde unsere Synagoge gesprengt“, sagt de Vries. Die Erklärung: Das Gebäude habe nicht mehr ins Stadtbild gepasst. Als am 7. November 1938 Herschel (Hermann) Feibel Grynszpan, ein Jude, in Paris ein Attentat auf einen deutschen Diplomaten verübte, begann die Hetze auf Juden überhandzunehmen. Zu der Zeit hatte de Vries mit 15 Jahren ihre Schule beendet und arbeitete in einer Näherei.
„Am 10. November in der Früh klopfte jemand an die Tür. Es war der Chauffeur unseres ehemaligen Geschäfts. Er erzählte, dass Menschen überall mit Spitzhacken rumliefen und die Schaufenster jüdischer Geschäfte einschlügen. An dem Tag musste ich zur Arbeit“, erzählt de Vries. Ihr kleiner Vetter lebte zu der Zeit bei ihr und musste zur Schule. Sie gingen beide los. „Meine Mutter hatte höllische Angst um uns.“
Zerstörung und Vertreibung
In der Näherei herrschte beklommene Stimmung. „Wir wussten, dass jeden Moment jemand reinkommen könnte“, erzählt de Vries. Dann plötzlich gingen die Maschinen aus und die Näherinnen wurden aufgefordert, rauszugehen. „,Juden raus’ haben sie geschrien. Dann haben die Männer in Uniform die Frauen aus dem Gebäude geschickt. Ich bin einfach nach Hause gerannt.“
Ihre Mutter war apathisch und ratlos. „Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Dann kam mein Vetter nach Hause, schluchzend. Achtklässler haben Lehrer und Schüler die Treppe hinuntergestoßen und gerufen: ,Wir wollen keine Juden’. Der einzig sichere Ort schien uns zu dem Zeitpunkt das Grab meines Vaters zu sein“, erzählt die 91-Jährige. Es war ein kalter, nasser Novembertag. De Vries wusste, sie würden sich erkälten, wenn sie noch länger dablieben, also ging sie alleine zur Wohnung. „Als ich ankam, hörte ich, wie drinnen alles demoliert wurde“, erzählt sie. Als alles zerstört und die Wohnung wieder verlassen war, holte de Vries ihre Mutter und ihren Vetter.
Beim Anblick der zerstörten Wohnung brach Jeanette Korn zusammen. „Und es war nicht mal ein Stuhl übrig, auf den sie sich hätte setzen können“,erläutert de Vries. Die Betten waren aufgeschlitzt, das Geschirr zerschmettert und alles stand unter Wasser. „Draußen verkündete ein Beamter der Kripo, dass alle Juden bis um 18 Uhr den Platz verlassen müssen.“ Sie flüchteten nach Köln, zu den Eltern des kleinen Vetters. „Die hatten jedoch selbst kaum Platz für zwei in ihrer Wohnung. Es war in jeder Hinsicht bedrückend. Meine Mutter fuhr wenig später zurück nach Kaiserslautern. Sie fand ein paar Handwerker, die sich bereit erklärten, für sie zuarbeiten und ließ sie die Wohnung wieder in Ordnung bringen“, erzählt de Vries. Weihnachten 1938 kam sie wieder nach Hause. Ein kleines Stück Alltag kehrte zurück in das Leben der Familie Korn. De Vries fing an, in einem großen jüdischen Krankenhaus in Köln zu arbeiten.
Als 1941 die Nationalsozialisten verstärkt anfingen, Juden zu deportieren, fuhr de Vries nach Kaiserslautern zu ihrer Mutter. „Drei Wochen später bekam ich ein Päckchen von der Oberin mit einem Abschiedsbrief. Das Bürgerhospital war bombardiert worden. Also wurde das jüdische Krankenhaus aufgelöst, alle Menschen dort deportiert und das Bürgerhospital zog in das Gebäude“, erzählt die 91-Jährige.
Zug nach Auschwitz
Am 6. Juli 1943 wurden Erna de Vries und ihre Mutter deportiert. Die damals 19-Jährige sollte eigentlich in Kaiserslautern bleiben. „Aber ich wollte nicht von meiner Mutter getrennt werden. Ich hab den Offizier angefleht und gebettelt, bis er nachgegeben hat. Meine Mutter weinte und versuchte, mich davon abzuhalten.“
Zwei Tage verbrachten die beiden in Saarbrücken, bis sie mit einem Zug nach Auschwitz-Birkenau gebracht wurden. „Die Fenster waren mit Holz verriegelt und die Türen verschlossen. Es war ein Gefangenentransport“, erklärt de Vries. Nach sieben Tagen kamen sie im Konzentrationslager an. Ihnen wurden die Koffer weggenommen, sie mussten alles ausziehen – Ohrringe und selbst Brillen ablegen. Dann wurden sie an sämtlichen behaarten Körperstellen rasiert. „Anschließend bekamen wir eine Nummer in den Arm tätowiert“, sagt de Vries und hebt ihren Ärmelhoch. Ein paar Zahlen in einem ausgeblichenen Schwarz kommen zum Vorschein – „es ist nicht meine Schande, es ist die Schande derer, die tätowiert haben“.
„Sie warfen uns ein Bündel Kleidung zu. Ob es passte oder nicht, war denen egal. Dann haben wir unsere Schuhe bekommen: Ein Stück Holz. Um den Fuß zu halten, war ein Stück Stoff draufgenagelt“, beschreibt de Vries. Das Holz schürfte ihnen regelmäßig die Knöchel auf. Und wegen des Mangels an Vitaminen entzündeten sich die Wunden sofort. „Erst waren wir vier Wochen in einem Quarantäneviertel. Den Tag verbrachten wir auf einer ,Wiese’. Das war aber nur festgetretene Erde. Es war Sommer, also unerträglich heiß und wir bekamen nichts zu trinken. Nur morgens eine Tasse Tee – aus gekochtem Gras“, betont de Vries.
Diagnose: arbeitsunfähig
Dann kam sie mit ihrer Mutter in ein Arbeitslager. „Alles war voll Ungeziefer.“ Die Läuse, Flöhe und Wanzen bissen de Vries, und „fürchterliche Wunden“ entwickelten sich.
Arbeiten mussten sie eineinhalb Stunden Fußmarsch entfernt. „Wir gingen an den Krematorien, den Gaskammern und Bergen von Leichen vorbei.“ Bis zu den Achseln im Wasser mussten sie dann das Schilf aus dem Gewässer holen. „Den ganzen Tag lang. Dann liefen wir nass zurück. Am Morgen war immer noch alles feucht.“ De Vries’ Wunden entzündeten sich noch stärker, aber sie wollte keine Schwäche zeigen. „Die Kranken kommen nicht mehr zurück.“ Eines Tages kam der Arzt zur „Selektion“. Er begutachtete de Vries’ Körper, die Wunden und schickte sie in den Todesblock. Diagnose: arbeitsunfähig.
Dem Tod knapp entkommen
Die Frauen wussten, dass das ihr Tod bedeutete. „Wir bekamen nichts mehr zu essen, wir mussten uns in Blecheimern entleeren, und nirgendwo war Platz“, erzählt de Vries. Sie verkroch sich unter einer Koje. Am nächsten Morgen brachen die Frauen in Panik aus. Sie wurden auf einen Wagen geprügelt, der sie zur Gaskammer bringen sollte. „Umgebracht zu werden ist etwas anderes, als zu sterben.“ De Vries lies sich zu Erde fallen, sie wurde angerempelt, umgeworfen, ihr wurde auf die Hände getreten. Aber sie betete nur. Sie wollte leben. Nur leben. Und noch einmal die Sonne sehen. Um sie herum herrschte Chaos. Alle liefen panisch herum, nackt. Und dann stieg die Sonne über dem Nachbarblock auf.
„Auf einmal hab ich meine Nummer gehört. Ein SS-Mann machte eine Blocktür auf, schubste mich rein und sagte mir, ich habe mehr Glück als Verstand“, erzählte de Vries. Drinnen herrschte Totenstille. Sie war unfähig sich zubewegen, wusste nicht, was geschah. „Der SS-Mann war aufgefordert, 85 ,Mischlinge’ rauszuholen, also Halbjuden“, sagte de Vries. Sie sollten im Konzentrationslager in Ravensbrück Geräte für Unterseeboote bauen.
„Mein einziger Wunsch war es, noch einmal meine Mutter zu sehen. Sie war glücklich, dass ich rauskam. Wir haben uns verabschiedet und danach habe ich meine Mutter nie wieder gesehen.“
Stille herrscht in der Aula des UGN. Einige Schüler weinen, andere schauen bedrückt zu Boden. Der Moment holt alle im Raum in die Gegenwart zurück. Man wird sich bewusst, dass die Zeit des Nationalsozialismus längst vorbei ist, die Erinnerungen und der Schmerz für viele Menschen jedoch allgegenwärtig sind.
Fußmarsch in die Freiheit
Erna de Vries trinkt einen Schluck Wasser und redet weiter. Die Stimme immer noch laut und fest: „Vier Wochen waren wir zunächst in Quarantäne.“ Dann fingen sie an, im Siemenslager Ravensbrück zu arbeiten. Bis Januar1944 mussten sie warten, bis sie über das Schicksal ihrer Angehörigen informiert wurden. „Von 22 Anfragen bekamen 20 Frauen einen Todesschein“, sagt de Vries. „Meine Mutter starb am 8.November 1943. Wenige Wochen, nachdem ich das Lager verlassen habe. Ich dachte nur , jetzt kann sie keiner mehr quälen’. “Als im Sommer 1944 der Krieg dem Ende zuging, bekam Siemens in Ravensbrück keine Aufträge mehr und musste aufgeben. „Wir haben uns in Marsch gesetzt und liefen und liefen.“ Nach tagelangem Fußmarsch trafen sie auf die amerikanischen Soldaten. „Auf einmal waren wir frei.“
Erneute Stille im Raum. Eine Schülerin schnieft in ihr Taschentuch und dann: Applaus, anerkennend und mitfühlend. Zutiefst gerührt versuchen alle im Raum ihre Gefühle zu ordnen, alles sacken zu lassen, falls das überhaupt möglich ist. Dann die erste Frage aus dem Publikum: Was passierte nach Kriegsende?
Erna de Vries zog nach Köln. Hier lernte sie ihren Mann kennen. Josef de Vries, ebenfalls Jude, war insgesamt sechs Jahre Häftling in verschiedenen Konzentrationslagern. Die beiden haben drei Kinder, sechs Enkel und leben in Lathen, im Emsland.
„Und haben Sie mit denen je über die Zeit gesprochen?“, fragt eine Zuschauerin. Sie gehöre zu der Generation, deren Eltern die Nazi-Zeit erlebt haben. „Wir haben unsere Eltern nach ihrer Geschichte gefragt, aber sie haben geschwiegen.“
Auch de Vries hat lange nicht über ihre Geschichte gesprochen. „Wir wollten nicht, dass unsere Kinder etwas davon mitkriegen. Wir wollten sie schonen“, erklärt sie. Natürlich hätten die Kinder trotzdem eine Ahnung gehabt, ein bisschen was aufgeschnappt und konnten sich denken, was passiert ist.
Erst 1995 hat de Vries das erste Mal einem Historiker von ihrer Vergangenheit erzählt. „1997 wurde ich dann zum ersten Mal eingeladen. Danach hat das wie eine Lawine immer weiter zugenommen“, sagte sie. Seitdem berichtet sie in Bildungseinrichtungen von ihrem Schicksal.
Um kurz nach 13 Uhr stehen die ersten Norder Schüler auf, langsam, bedächtig. Sie haben gerade eineinhalb Stunden lang in der Vergangenheit verbracht, einen Bruchteil dessen gespürt, was de Vries durchlitten hat. „Heftig“, ist da das Einzige, was einige sagen können. Und heftig war sie gewiss, die Vergangenheit von Erna de Vries und den sechs Millionen anderen europäischen Juden, die nicht so viel Glück hatten und dem Horror der Nationalsozialisten zum Opfer fielen.
Entnommen aus dem Ostfriesischen Kurier vom 06.10.2015, Seite 4.