Im Rahmen der Vortragsreihe Studium Nordense lädt das Ulrichsgymnasium zu einem Vortrag von Frau Dr. Natalie Struve ein.
Thema: "Können wir die Welt verändern? Schreiben in den Wissenschaften (und darüber hinaus".
Der Vortrag findet am Mittwoch, dem 20.01.2016, um 20 Uhr in der Aula statt. Der Eintritt ist frei.

Studium Nordense ist eine Veranstaltungsreihe des Ulrichsgymnasiums, in der ehemalige Absolventen unserer Schule über ihren Werdegang und ihren Beruf berichten und damit Schüler, Kollegium und Öffentlichkeit an ihrer wissenschaftlichen und künstlerischen Tätigkeit und deren Ergebnissen teilhaben lassen. Jeder Referent hält einen öffentlichen und einen Vortrag für die Schüler der Oberstufe. Letzterer hat auch deutlich berufskundliche Dimensionen, weil der Referent auch zu den Voraussetzungen und beruflichen Chancen seiner Studienrichtung Stellung nimmt.

Den Kern freilegen und dann bohren: Struve coacht Wissenschaftler und hat jede Menge Ideen.

NORDEN/ISH – Ein Anruf bei Dr. Natalie Struve kostet Zeit. Einmal in Fahrt, erzählt die Juristin und erzählt und erzählt. Fragen zwischendurch unterbrechen nur kurz den Redefluss. Wenn überhaupt. Egal. Denn, was sie zu erzählen hat, ist so spannend, dass sich Fragen meist erübrigen. Und das Gute: Man kann alles problemlos verstehen...
Warum gerade das so bemerkenswert ist? Weil Struve in ihrer beruflichen Laufbahn festgestellt hat, dass das eher eine Seltenheit ist. Vielleicht nicht gerade im Gespräch. Aber in den schriftlichen Arbeiten. Dissertationen? Eher hochkompliziertes Kauderwelsch. Klausuren? Viel mehr schlechte als gute.Viel zu viele schlechte, fand die Norderin, die 1987 nach ihrem Abitur ihrer Heimatstadt den Rücken kehrte. Na, nicht ganz. Aber dazu später.
Also das Wesentliche: Das ist das, was Struve – einem Zahnarzt gleich, der immer weiterbohrt, bis er sämtliche Karies entfernt hat – mit ihren Kunden (alles vomStudienanfänger bis zum Professoren) aus deren wissenschaftlichen Arbeiten freilegt. Die Juristin lässt nicht durchgehen, wenn die Physikerin sich in Allgemeinplätzen, der Kunsthistoriker sich in schwammigen Beschreibungen, die Biologin sich zwischen Chemiegleichungen verliert. Eigentlich klingt alles ganz einfach: Jede wissenschaftliche Arbeit, das ist Struves Anspruch, soll bitte allgemeinverständlich geschrieben sein. Klare Strukturen, einfach gebaute Sätze. Punkt. Und immer Schritt für Schritt erklären, was man tut, warum man es tut.
Die, die heute Textcoaching anbietet und Workshops für wissenschaftliches Schreiben, Projektmanagement und wissenschaftliche Kreativität, die sich intensiv mit wissenschaftlichen Arbeitsprozessen und Erkenntnissen auseinandersetzt, hat früh gelernt, alles zu hinterfragen. Und zwar genau. Es sei ihre damalige Klassenlehrerin Dr. Sibylle Brüggemann gewesen, die ihr diese Haltung beigebracht habe, sagt Struve: „Ehrlicher Umgang mit Quellen. Ich gucke selber nach, setze mich damit auseinander und lasse andere Meinungen gelten, wenn sie begründet sind.“ Das, sagt sie, habe sie selten so konsequent erlebt wie bei Frau Brüggemann.Und das prägte die Schülerin.
Den Dingen auf den Grund gehen wollte Natalie Struve schon immer, deshalb ein Jurastudium, denn: „Jura ist ein sehr präziser Umgang mit Sprache und Auseinandersetzen mit abstrakten Regeln. Man muss gucken–passt eigentlich diese konkrete Situation? Es ist eine Mischung aus gesundem Menschenverstand, Offenheit für das Leben rundum und logischem Denken.“
Hört sich erst mal gut an, aber die Norderin ist verdammt ehrlich, wenn es ums Thema Studium geht. Da habe es den Doktorvater gegeben, der gemeint habe, sie sei das faulste Wesen, das er jemals habe Prädikatsexamina machen sehen ... Allerdings meinte besagter Doktorvater das durchaus anerkennend.
Staatsexamen eins, Staatsexamen zwei (nicht fleißiger, trotzdem mit Prädikat), zwischendurch Wahlstation in Auckland, Neuseeland („... weil ich schon immer nach Neuseeland wollte“), Arbeit als Gerichtsreporterin, Lehrauftrag in Liverpool und manches andere. Und: Korrekturen. Darin, sagt sie, sei sie schon in der Schule gut gewesen. 1500 Arbeiten, meint sie, hat sie allein an der Uni in Münster korrigiert, wo sie nach Stationen in Freiburg und Mannheim wieder landete. Zwischen Rotwein und Schokolade: Frust über das, was die Studenten abliefern. Und vor allem das Gefühl: Man versteht nicht, was die Leute da mit ihren Texten sagen wollen. „Das ist, glaube ich, mein wesentlicher Vorteil, dass ich mir immer eingebildet habe, wenn ich es nicht verstehe, dann liegt es am Text und nicht an mir.“
Also: Den Leuten vorher beibringen, wie man schreibt, – damit man sich nachher nicht über schlechte Arbeiten ärgern muss. Um das zu verwirklichen, promoviert sie: Dr. jur.

Über verschiedene, nennen wir es Lebensstationen, hat sich für die Juristin ihr heutiges Berufsbild herauskristallisiert. Und nein, es sind nicht in erster Linie Jurastudenten, die bei ihr Hilfe suchen. Da ist sie durchaus selbstkritisch. Weil sie Vorwissen habe, könne sie da keine echten Fragen mehr stellen, erklärt sie ihr Dilemma. Denn das ist eben ihre Stärke. Leute anderer Fachbereiche zu jeder Einzelheit in der entstehenden Arbeit löchern, alles Unverständliche in Zweifel ziehen. So werden die (angehenden) Wissenschaftler gezwungen, sich Schritt für Schritt durch scheinbar riesige Aufgabenberge zu bewegen. „Die Leute wissen nicht, was von ihnen erwartet wird“, ist Struves Erkenntnis. Deshalb hätten fast alle, selbst die fachlich sehr kompetenten Leute, Angst. Das hemme die meisten, blockiere sie förmlich.
Sie selbst hat keine Scheu vor denen, die gern behaupten, wissenschaftliche Arbeiten seien kompliziert und deshalb für Außenstehende nicht nachvollziehbar. Struve hat stattdessen festgestellt, dass Wissenschaftler gern mal Gedankenschritte überspringen, wenn sie ihre Erkenntnisse zu Papier bringen. Forscher dokumentieren hinterher statt parallel, da können unterwegs schon mal Aspekte verloren gehen. Aber nicht nur das.Welcher Schreiber denkt bei seiner Arbeit ernsthaft an den Leser? Es seien nicht einfach nur komplizierte Sätze, die dem Verständnis schadeten, sagt Struve. Sie kann schon aus dem Stegreif 100 Stolperfallen nennen, in die Schreiberlinge tapsen können.
Und sie tapsen gern gleich in fast alle. Verschwenden kaum einen Gedanken daran, warum sie was und wie zitieren, hinterfragen nicht, sondern scharben an der Oberfläche. Und verlieren sich dabei imWust von Informationsbergen und eigenen Gedanken.
Beim Vortrag in der Aula des Ulrichsgymnasiums wird Struve, mit Temperament und Witz, davon kann man schon nach einem Telefonat ausgehen, sogenanntes wissenschaftliches Schreiben auf den Prüfstand stellen.
Ob sie mithelfen kann, die Welt zu verändern, wie man nach dem Vortragstitel vermuten könnte (...)? „Wissenschaftler können viel mehr Einfluss nehmen auf das, was um sie herum passiert“, erklärt sie. „Das setzt aber voraus, dass sie in der Lage sind, ihre Erkenntnisse auch tatsächlich zu transportieren. Ich kann die bahnbrechendsten Erkenntnisse haben, aber die Allgemeinheit kriegt sie nicht mit, weil ich nicht in der Lage bin, es zu kommunizieren.“ Entsprechend müsse sich das Schreiben in den Wissenschaften verändern, gerade in Deutschland. Und Struve sagt auch deutlich, dass mancher dafür von einem ziemlich hohen Ross steigen muss.
Nicht nur dazu wird sie am kommenden Mittwoch erzählen – sie ist in der Praxis viel weiter, arbeitet an neuen Methoden und Möglichkeiten, Leuten zu helfen. Wie man das Gehirn dazu kriegt, richtig produktiv zu arbeiten, zum Beispiel, wie man sich an den dicken Mauern, die ständig bei den anstehenden Arbeiten vor einem auftauchen, keine Beule an der Stirn mehr holt. Nicht nur Wissenschaftler und die, die es werden wollen, können bei der Frau, die heute südlich vonMünchen in Murnau zu Hause ist, an diesem Abend also vermutlich noch etwas lernen.

Entnommen aus dem Ostfriesischen Kurier vom 16.01.2016, Seite 7.